Kunstradfahren ist eine ästhetische Sportsart. Es gibt Einer-, Zweier-, Vierer- und Sechser- Kunstradfahren.
Beim Wettbewerb wird in einer 5-Minuten Kür wird auf einer Fläche von 14×11 Meter Kunststücken gezeigt. Die Kür umfasst je nach Disziplin bis zu 30 Elemente, für die man je nach Schwierigkeitsgrad eine bestimmte Punktzahl erhält.
Die Räder haben eine starre 1:1 Übersetzung und sind für Vorwärts- und Rückwärtsfahren geeignet. Der Reifendruck beträgt bis zu 16 bar.
Kunstradfahren: Die vergessene Disziplin
von WOLFGANG WEHAP
Kunstradfahren besitzt, besser gesagt besaß auch in der Steiermark Tradition. Aus dem Status einer Nischensportart kam es zwar nie ganz heraus, es brachte aber etliche österreichische MeisterInnen und auch international erfolgreiche AthletInnen und AktrobatInnen hervor. Die große Zeit war in den 1950er und 1960er Jahre.
Die vorwiegend jungen, gut betuchten, männlichen Nutzer des Bicycles kamen häufig aus der Turnerschaft. Es lag also nahe, dass man im Zweirad nicht nur ein Instrument der Fortbewegung mit hoher Geschwindigkeit, sondern auch ein Turngerät sah. Dazu kam, dass die eingeschränkte Benutzbarkeit der Straßen die Radler auf Renn- und Schulbahnen und – speziell im Winter – in den Sälen von Gastwirtschaften Zuflucht nehmen ließ.
Als erster betrieb der Grazer Bicycle-Club (gegr. 1882) das Schul- und Kunstfahren. Die erste Aufführung vor großem Publikum fand unter dem Titel „I. Akademie“ im Frühjahr 1883 in der Industriehalle (heute: Messe) statt.
Freilich unterschieden sich die Kunststücke und Figuren erheblich von der heutigen Saalradsportdisziplin Kunstradfahren – diese erinnerten damals vielmehr an Kompositionen eines Varietés: „Unter Musikbegleitung durch die Capelle des Regiments König der Belgier zeigten 17 Bicyclisten Figuren in verschiedenen Formationen, erschienen in Jockeycostümen zu angedeuteten Hindernisrennen und inszenierten „Zukunftsbilder“ sowie mit Hilfe eines alten französischen Vélocipedès einen Vergleich von ‚Jetzt und Einst‘“.
Die „Tagespost“ berichtete: „Der Obmann des Clubs, Ernst Wlatnigg, führte hierauf in geradezu virtuoser Weise eine Reihe äußerst schwieriger Kunststücke der `hohen Schule´ aus. Er fuhr beispielsweise ohne Balance (= freihändig, Anm.) über eine Barrière, sprang während des Fahrens vom Instrumente ab und sofort wieder hinauf, fuhr über eine bewegliche Barrière, blieb auf dem Bicycle einige Sekunden ruhig stehen, kniete während der Fahrt auf demselben usw.“
„Mit graziösem Chic“
Star der heimischen Szene war Hubert Endemann, der ab 1890 mehrere Meistertitel holte und auf dem Monocycle solo oder im Terzett mit Pyramiden-Konstruktionen brillierte.
Anlässlich des zehnjährigen Gründungsfestes des Grazer Bicycle-Club schwärmte der Berichterstatter der „Tagespost“ von dessen Performance auf dem Hochrad: „Den Glanzpunkt der Endemann´schen Vorführungen bildeten die nach dem Tacte der Musik durchgeführten Pirouette vor- und rückwärts, die Voltige über das Gouvernal und die schwierigen Speichenübungen, lauter Bravourstückchen, die dem Kunstfahrer ausnahmslos glückten.“



Bei der Akademie 1889 glänzte der kaum neunjährige Ernst Graf Seilern, „der mit erstaunlicher Gewandtheit und graziösem Chic die schwierigsten Kunststückchen auf dem Zweirad ausführt.“
Zwischen „Sportsmann“ und Akrobat
Mit dem Übergang vom Hoch- auf das Niederrad ging auch das Saalfahren, konkret das Schul- und Reigenfahren, zurück. So konstatiert die Alpenländische Sport-Zeitung 1899, dass diese Disziplin“bei uns ganz in Vergessenheit gerathen ist“ , und auch das sportliche Kunstradfahren würde „jetzt nicht oder nur wenig geübt.“ Unter den Herrenfahrern (Amateuren) habe Endemann keinen Nachfolger gefunden.


Nach der Wende zum 20. Jahrhundert wurde der Saalsport in Graz vom RV Meteor und vom RV Styria betrieben. 1901 berichtete eine Zeitungsnotiz vom Auftritt eines „trefflichen Kunstradfahrers“ des RV Eichenkranz bei einem Fest im Gasthaus „Zum Lamm“
in der Schmiedgasse. Besagter Rupert Riedisser aus Peggau schlug alsbald eine Profilaufbahn ein und tourte durch Deutschland. Mit Platz eins im Schulreigenfahren und Platz zwei im Kunstreigenfahren konnte der RV Meteor 1911 bei einer Saalsportgala in Wien aufzeigen. Bei „Schönau“ begann der Kunstradfahrer Anton Wiedner, der bei der WM 1913 in Wien für den RV Alpenrose Dritter wurde und mit Mary Puschütz und F. Umschaden auch im Terzett fuhr. Später bestritt er mit Parnterin unter dem Namen „Alland und Rewes“ im In- und Ausland Shows.
Hier wird auch der fließende Übergang zwischen Sport und Unterhaltung sichtbar, ein Übergang, der für Verfechter des Amateursports eine Grenze darstellte. Wie Detlev Sierck 1897 schreibt, sei bei der Bewertung darauf zu achten, dass es sich um eine sportliche Kunstleistung oder um Effekthascherei handelt, „letzteres würde den Sportsmann eben zum Akrobaten erniedrigen.“ So sehe man bei öffentlichen Schaustellungen etwa im Zirkus, „mit Grausen, zu welcher Fertigkeit es Personen in allerlei Gliederverrenkungen bringen. Nun soll aber der Sport im Dienste des Schönen stehen, da sein Endzwecke harmonische Ausbildung des Körpers ist. Daher darf bei einer Leistung im Kunstfahren eine Uebung nicht vorkommen, die nur schwierig ist, aber sonst das ästhetische Gefühl verletzt…“


Hochburgen Graz und Zeltweg
1934 bis 1944 dominierte der Grazer Josef Poschgan die österreichischen Solo-Meisterschaften und fuhr bei Europameisterschaften Spitzenpätze ein. Auf seine Amateur-Karriere ließ er eine als Profi und Unterhaltungskünstler („Radwunder Grasso“) folgen.
Bei den Damen galt Adele Vidiz als Talent. Auch in der Obersteiermark, konkret in Fohnsdorf gab es Aktivitäten (Bestridzki und P[r]ater), die dann in Zeltweg aufgegriffen und nach dem Zweiten Weltkrieg weitergeführt wurden.
Direkt in die Welt der Unterhaltung und des Zirkus zog es den Bruder Poschgans, Karl Schwarzbauer, und seinen Sohn Karl Schwarzbauer jun.(1933-2013): Nach dem Krieg tingelten sie durch Deutschland, wo sie vor GIs auftraten, gründeten mit zwei Schwestern die „Chaludis“ und tourten mit einer großen Zirkus-Show durch die USA. Im Zirkusfilm „The Greatest Show on Earth“ mit James Stewart und Charleston Heston (1952) wurde diesem Unternehmen quasi ein Denkmal gesetzt.
Nach dem Krieg wurde das Kunstfahren noch stärker Domäne der Arbeiterradvereine: In Graz zeigte der ARV „Wanderer“ auf – ein Bild vom Sechser-Steuerrohreigen bei der „950 Jahre Österreich“-Feier vor dem Wiener Rathaus ziert den Titel der damaligen ARBÖ-Mitteilungen. Helmut Wruss (RV Junior) wurde 1951 und 1952 Staatsmeister, auf ihn folgte der Puch-Fahrer Bruno Windisch. In den frühen 1950er Jahren spielte neben dem RV Junior und dem ARV Puch auch noch die ARBÖ-Sektion Wetzelsdorf eine Rolle.



Kunstrad-Team RV Puch 1955:
Rudi Gollner, Erika Nopp, Anton Leiner, Emmi Gröbl, Ernst Oswald, Martha Nopp, Hermann Kovacic
(Foto: Besitz Emmi Gröbl-Thomann)

(Foto: Egon Blaschka/ Multimediale Sammlungen, Universalmuseum Joanneum
In der Obersteiermark bildete sich ernstzunehmende Konkurrenz zu den Grazer Vereinen heraus: In Knittelfeld trainierten 1959 zwölf Mädchen und 21 Buben zweimal die Woche im Theatersaal, 1964 errang man den Staatsmeistertitel im Sechser-Reigen. Noch älter und erfolgreicher war die Kunstrad-Sektion des ARBÖ Zeltweg: Am 1. Mai 1952 trat die Truppe nach nur zwei Monaten Training erstmals öffentlich auf. Mit Rudolf Hebenstreit, Willi und Kurt Maier, Franz Hruby und Emmi Gröbl waren auch künftige Staatsmeister dabei; etwas später stieß Lotte Maier (Jg. 1935), Schwester von Willi und Kurt dazu – die Grande Dame des Kunstradfahrens ging später nach Vorarlberg war dort noch lange als Trainerin aktiv.
Willy Kalcher ist mit elf Meistertiteln sowie zwei 6. Plätzen bei den WM 1969 und 1971 der letzte und zugleich erfolgreichste Kunstrad-Meisterfahrer der Steiermark. Mit seinem Ziel, zehn Mal ö. Meister im Einer-Kunstfahren zu werden, scheiterte der 1955 nach Deutschland ausgewanderte Maschinenschlosser und Unternehmensgründer am Reglement. Die meisten Staatsmeistertitel sammelten Kurt und Willi Maier (16 und 12), Oswin Sammer (14) sowie Franz Hruby (11). „Wir waren eine Partie, die einmalig war. Jeder hat auf den anderen geschaut“, erinnert sich Fotograf i.R. Hruby.
Viele spannende Wettkämpfe stiegen in Graz und Zeltweg: 1952 die ö. Meisterschaften im Kunstradfahren und Radball in den Grazer Kammersälen, 1955 das ASKÖ Bundessportfest, eine „prächtige Heerschau des Arbeitersports“ mit den Saalradsportlern an der Spitze des Festzuges im neu errichteten Liebenauer Stadion. 1957 wurden die nationalen Meisterschaften vor rund 2000 Zuschauern im Hangar III in Zeltweg ausgetragen. Doch schon 1956 wird lamentiert, dass es an Geld und Räumlichkeiten fehle und nur noch „wahre
Idealisten“ dem Kunstradfahren nachgingen – Radball wurde zu dieser Zeit ohnedies nur noch von Puch betrieben.
In den 1970er-Jahren war die Zeit der Kunstrad-Hochburg Zeltweg abgelaufen, 1981 wurde die Sektion unter Willi Maier zwar neu gegründet, nach Achtungserfolgen in der Kinder- und Jugendarbeit wurde der Betrieb aber Ende 1993 endgültig eingestellt.

(Foto: Franz Hruby)
Literatur und Quellen
Detlev SIERCK, Radsport und Rennfahren, in: Paul Salvisberg, Der Radfahrsport in Bild und Wort, München 1897 (Nachdruck 1998) 69-110, 109
Gernot FOUNIER, Zeltweg (Chronik), 1999, 306f
Alpenländische Sport-Zeitung (Bl. zu Nr. 323 des „Grazer Tagblattes“), 22.11.1899
ARBÖ Mitteilungen 7/4. Quartal 1946, 1
ARBÖ Rad- und Kraftfahrerzeitung 43/3/März 1953, 9
80 Jahre ARBÖ-Ortsklub Zeltweg (1993), 23-27
Der Velozipedist VII/2/25.1.1889, 11
Deutsch-Alpenlädisches Sportblatt I/16/6.11.1919
Österr. Touring-Zeitung 8/1913, 7, Die Adria-Radsaalsport-Akademie
Reichspost 4.12.1911, 5, Das Gala-Saalsportfest
Tagespost vom 7.3.1883, 9.12.1892, 20.2.1941
Interviews mit Emmi Gröbl, Manfred Muller, Willi Kalcher, Willi und Kurt Maier, Lotte
Maier-Schobel und Gerlinde Dahnke (Poschgan), Karl Schwarzbauer 2011/12




Weiterführende Links
https://de.wikipedia.org/wiki/Kunstradfahren | Wikipedia-Artikel |
https://www.radlobby.at/sites/default/files/atoms/files/kunstradfahren.pdf | Der beitrag von Wolfgang Wehap als PDF |
